Die inklusive Beschulung in Niedersachsen wird grundsätzlich über den (sonderpädagogischen) Unterstützungsbedarf realisiert. Im weiteren Verlauf werde ich dafür die Abkürzung SUB verwenden. Die Feststellung des SUB dient dazu, Fördermaßnahmen zu initiieren, die weiterführende Ressourcen (Unterrichtsstunden) bedürfen oder, die der Schule zur Verfügung stehenden Ressourcen entsprechend zuzuteilen. Besonders relevant ist dabei, dass derzeit jede Grundschule (Achtung: Weiterführende Schulen erhalten zusätzliche Unterrichtsstunden nur für Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung) pauschal pro Klasse 2 Lehrerstunden zusätzlich als sonderpädagogische Grundversorgung erhalten. Ferner wird im Rahmen der Klassenbildung ein Kind doppelt gezählt, wenn es einen festgestellten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung hat.

Anmerkung: Die Höchstgrenze an Kindern in einer Grundschulklasse in Niedersachsen liegt bei 26 Kindern. Befindet sich ein Kind mit einem SUB in der Klasse, können es somit nur noch 25 „Köpfe“ sein.

Ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf ist somit ein zentraler Bestandteil der inklusiven Beschulung von Kindern mit einer Behinderung oder von Kindern, die von Behinderung bedroht sind.

Regelschule vs. Förderschule

Mit der Einführung und der Umsetzung der inklusiven Schule im Jahre 2013 gilt:

„Die Niedersächsische Landesregierung vertritt ein erweitertes Begriffsverständnis von Inklusion. Inklusion bedeutet in diesem Sinne die umfassende und uneingeschränkte Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben. Das schließt ausdrücklich das Recht auf Bildung ein. Die inklusive Schule ist eine Schule der individuellen Förderung, in der jedes Kind mit seinen individuellen Talenten, Begabungen sowie besonderen Bedarfen bestmöglich unterstützt wird. Die inklusive Schule begreift Heterogenität als Grundlage und Chance schulischer Arbeit und Bildung.“
Quelle: MK Niedersachsen

Das bedeutet, dass jedes Kind (mit einer Behinderung oder von Behinderung bedroht) das Recht hat, auf einer Regelschule beschult zu werden. Weiterhin entscheiden stets die Eltern über den Förderort. Das heißt, kein Kind kann gezwungen werden, eine Förderschule zu besuchen.

In Niedersachsen gibt es Förderschulen mit den Förderschwerpunkten

  • emotionale und soziale Entwicklung (ESE),
  • geistige Entwicklung (GE),
  • körperliche und motorische Entwicklung (GE),
  • Hören (),
  • Sehen (SE),
  • Sprache (SR).

Die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen lief seit 2013 aufsteigend aus und ist nach 4 Jahren somit nicht mehr existent gewesen.

Unterstützungsbedarfe

Damit ein Kind inklusiv beschult wird/werden kann, muss ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf festgestellt werden. Das Verfahren hierzu wird von der Schulleitung initiiert.

Dabei wird unterschieden, ob das Verfahren vor oder während des Schulbesuches eingeleitet wird.

Vor der Einschulung kommt es z. B. bei signifikanten Einschränkungen und erheblichen Behinderungen (ICD-10) in den körperlichen Dispositionen (KME, SE, SR, GE) eines Kindes zur Einleitung.

Beispiele:

  • KME, Kinder im Rollstuhl, Missbildungen etc.
  • SE, Kinder mit stark eingeschränkter Sehfähigkeit
  • SR, Kinder mit organischen und psychischen Einschränkungen der Sprache und der Sprachentwicklung (siehe auch HÖ) wie bei Mutismus, Dysphasie, Aphasie etc.
  • , Kinder mit stark eingeschränkter Hörleistung wie bei AVS, AVWS etc.
  • GE, Kinder mit geistigen Entwicklungsverzögerungen oder -störungen, wie Autismus in all seinen Spektren wie dem Asperger-Syndrom und dem frühkindlichen Autismus
  • ESE, Kinder mit allen Formen der emotional-sozialen Störungen, Defiziten oder Entwicklungsstörungen
  • LE, Kinder mit einer verzögerten und/oder eingeschränkten Lernleistung. Lernen wird erst ab oder zur dritten Klasse diagnostiziert und eingeleitet. Das Lern- und Leistungsdefizit muss so groß sein, dass Nachteilsausgleiche nicht mehr greifen können. Beispiel: Das Kind kommt in die dritte Klasse, hat schon einmal wiederholt und hängt trotzdem 1 Jahr zurück.

Diese genannten Bespiele können ein Indiz oder einen Grund für die Einleitung des Verfahrens zur Feststellung eines Bedarfes an sonderpädagogischen Unterstützung (BasU) sein. Es ist jedoch kein Automatismus!

Gegenbeispiele:

  • Nur, weil ein Kind im Rollstuhl sitzt, muss es nicht zwingend einen SUB bekommen. Der Rollstuhl kann die Nachteile ausgleichen und muss die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht nicht behindern.
  • Nur, weil ein Kind eine eingeschränkte Hörleistung besitzt, muss es nicht zwingend einen SUB bekommen. Ein Hörgerät oder eine FM-Anlage kann die Nachteile ausgleichen.
  • usw.

Nach der Einschulung, also während des Schulbesuches, kommt zusätzlich noch der Bereich Lernen (LE) dazu. Aufgrund der Struktur dieses Unterstützungsbedarfes und den zu bewältigenden Aufgaben kann die Lernstörung dem Grunde nach erst in der Schulzeit festgestellt werden. Genau dann, wenn die geforderten Aufgaben und Leistungen erlernt, aber nicht erbracht werden können. Und dies ist im Falle des Unterstützungsbedarfes Lernen erst ab der dritten Klasse möglich. Hierzu sind mehrere Förderpläne und schulische Maßnahmen im Vorfeld notwendig, darunter fällt auch die notwendige vorherige Wiederholung des Schuljahrgangs.

Ablauf des Verfahrens

Vorab:

Je nach Förderbedarf wird das Verfahren noch vor der Einschulung, z. B. nach den Erkenntnissen der Einschulungsuntersuchung oder Schuleingangsdiagnostik eingeleitet. Dies ist bei offensichtlichen Behinderungen bzw. Unterstützungsbedarfen sinnvoll.

Die meisten Verfahren werden jedoch erst in der Schulzeit eingeleitet. Nach meiner Erfahrung und Einschätzung nehmen die Förderbedarfe Lernen und emotionale-soziale Entwicklung den größten Anteil an festgestellten Unterstützungsbedarfen ein.

Diese beiden Unterstützungsbedarfe stellen auch noch einen Sonderfall für die Grundschule dar. Beide Förderbedarfe lösen in der Grundschule keine zusätzlichen Ressourcen aus! Egal, wie viele Kinder mit einem SUB an der Schule sind, die Unterstützungsbedarfe Lernen und ESE sind mit der sonderpädagogischen Grundversorgung (2 Lehrerstunden pro Klasse) abgegolten.

Beim Unterstützungsbedarf Lernen ist weiterhin ein Lernrückstand von 2 Jahren erforderlich und sämtliche schulischen Fördermaßnahmen sind oder waren nicht erfolgreich.

Im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung ist eine prozessbezogene Beobachtung über einen längeren Zeitraum (mind. 6 Wochen) notwendig.

Das Verfahren ist wie folgt gegliedert:

  • Beratungs- und Förderphase in der Schule, Eltern werden hier schon mit einbezogen.

  • Einleitung des Verfahrens, wenn alle andere Fördermöglichkeiten ausgeschöpft sind. Elterngespräch zum geplanten Gutachten findet statt.

  • Die Schulleitung leitet das Verfahren mit Formblättern ein und meldet es dem RZI.

  • Die Regelschullehrkraft sowie eine Förderschullehrkraft (des entsprechenden Förderschwerpunktes) werden mit der Gutachtenerstellung beauftragt.

  • Anamnese und Elterngespräch (inkl. Datenschutz, Einholung von Informationen von dritter Stelle, Aufklärung, etc.).

  • Hospitationen im Unterricht durch die Förderschulkraft.

  • Austausch von Regelschullehrkraft und Förderschullehrkraft zwecks Erstellung des Gutachtens.

  • Bekanntgabe des Gutachtens an die Eltern und Angebot eines Erörterungsgespräches. Auf Wunsch der Eltern, kann eine Förderkommission eingerichtet / einberufen werden.

  • Die Schulleitung stellt die Verfahrensakte mit den Ergebnissen der vorgenannten Punkte zusammen, prüft auf Vollständigkeit und übersendet diese an das RZI.

  • Das RZI erstellt einen Bescheid zum festgestellten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung.

Abgrenzung

Ist der sonderpädagogische Unterstützungsbedarf immer gleichzusetzen mit einer Behinderung?

NEIN!

Eine Behinderung erfordert eine ärztliche Diagnose nach dem ICD-10 Schema. Wenn die Schule das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfes abschließt, legt sie es zur Entscheidung der niedersächsischen Landesschulbehörde vor. Nach Prüfung der Vorgangsakte wird dann ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung festgestellt (oder auch nicht). Diese Feststellung ist keine ärztliche Diagnose! Sie ist vielmehr eine pädagogische Entscheidung zur Hilfe und Unterstützung des Kindes.

So kann es sein, dass das Kind im Rollstuhl ohne einen Unterstützungsbedarf (aber mit einem entsprechendem Tisch) die Grundschule absolviert und ein Kind ohne ärztliche Diagnose oder Behinderung nach ICD-10 trotzdem einen Unterstützungsbedarf z. B. Lernen oder emotionale-soziale Entwicklung erhält.

Für immer?

Ein einmal festgestellter Unterstützungsbedarf kann verändert oder auch aufgehoben werden. In der Grundschule ist hierbei in der 4. Klasse – zum Wechsel der Schulform und dem Übergang nach Klasse 5 – zwingend das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfes erneut einzuleiten. Es muss geprüft werden, ob die Bedarfe weiterhin bestehen. Somit nehmen die Grundschulen die Prüfung für die weiterführenden Schulen in Niedersachsen vor.

Zieldifferente oder zielgleiche Beschulung?

Ein essenzieller Aspekt beim Unterstützungsbedarf ist die Frage nach zielgleicher oder zieldifferenter Beschulung. Aber was bedeutet das eigentlich?

Zielgleich:

Die zielgleiche Beschulung bedeutet, dass die Kinder genauso bewertet werden wie andere Kinder (ohne SUB) auch. Jeder Test, jedes Referat, jeder Aufsatz etc. wird unter den gleichen Maßstäben und Kriterien benotet. Etwaige Nachteilsausgleiche werden genauso berücksichtigt, beeinflussen jedoch nicht die Notengebung oder ein Abweichen von den Grundsätzen der Leistungsbewertung.

Die zielgleiche Beschulung findet bei den Unterstützungsbedarfen KME, ESE, Hören, Sehen, Sprache Anwendung.

Zieldifferent:

Eine zieldifferente Beschulung entkoppelt das Kind von den Grundsätzen der Leistungsbewertung. Dieses findet nur in den Unterstützungsbedarfen GE (Geistige Entwicklung) und LE (Lernen) statt. Die Kinder erhalten dann keine Noten mehr und auch das Zeugnis wird in Berichtsform erstellt. Dabei liegen der Bewertung die Vorgaben des kompetenzorientierten Unterrichts der Förderschule Lernen oder entsprechend der Förderschule geistige Entwicklung zugrunde. Wichtig ist hierbei zu erkennen, dass die Kinder somit ein Zeugnis der Förderschule erhalten. In der Grundschule mag das bisher nicht so schwerwiegend sein. In der vierten Klasse muss der Unterstützungsbedarf zwangsläufig erneut überprüft und ggf. angepasst oder aufgehoben werden.

Wichtig zu wissen:

Aber in der weiterführenden Schule haben die Unterstützungsbedarfe „Lernen“ und „geistige Entwicklung“ erhebliche Konsequenzen. Wird der Unterstützungsbedarf aufrechterhalten, so gibt es nach Klasse 9 zwangsläufig ein Abschlusszeugnis der Förderschule (Lernen oder geistige Entwicklung), welches auf der Regelschule ausgehändigt wird. Nur mit erneuert Wiederholung der Klasse 9 im Jahrgang der Hauptschule (ohne Unterstützungsbedarf) kann der Hauptschulabschluss erworben werden.

Dies kann und sollte auf jeden Fall probiert werden, denn mit einem Abschlusszeugnis der Förderschule bleibt der Einstieg in den 1. Arbeitsmarkt verwehrt. Oft kann dann nur über die Arbeitsagentur und evtl. den beteiligten Dritten (Lebenshilfe, AWO, Paritätische, DRK etc.) ein Helferberuf bzw. Helfer-Ausbildung aufgenommen werden.

Meine Meinung:

Inklusion, und die gleichberechtigte Teilhabe von Kindern mit und ohne Behinderungen, ist dem Grunde nach gut und notwendig. Aber Inklusion hat auch seine Grenzen und es sollte nicht um jeden Preis versucht werden etwas umzusetzen, was aufgrund der vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Ressourcen und/oder fachlichen Qualifikationen nicht umsetzbar ist. Gerade im Bereich des Förderschwerpunktes GE und bei stark ausgeprägtem Autismus ist die Förderschule – nicht immer – aber oft die bessere Wahl des Förderortes! Hier sollten Schule und Eltern offen und konstruktiv abwägen.

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Björn Bauch

Über mich:

Ich bin seit 23 Jahren im niedersächsischen Schuldienst tätig, 13 Jahre davon als Leiter einer 3-zügigen Grundschule. Mein Anliegen ist das Helfen bei schulischen Fragen, das Herstellen von Transparenz sowie – das möglicherweise – Richtigstellen von falschen Annahmen in Bezug auf die Rechtslage.

Schon vor vielen Jahren habe ich diese Webseite sukzessive erstellt, um die immer wieder auftretenden Fragen von Eltern beantworten zu können.

2 Comments

  1. Diana Bier 04741 3480 15. August 2024 at 15:59 - Reply

    Hallo Herr Bauch !

    Da Sie sich ja sehr gut 👍 in Sachen Inklusion auskennen und damit auch nicht hinterm Berg bleiben, können Sie mir hoffentlich eine Frage diesbezüglich beantworten. Wenn keinem behinderten Kind der Besuch einer Regelschule (hier jetzt Einschulung Grundschule) verweigert werden darf, warum darf dann der Besuch einer Förderschule verweigert werden. Unser Kind ist durch FAS auf ein ablenkungsarmes Umfeld beim Lernen angewiesen und emotional und sozial behindert + plus Lernschwäche. ,! MfG Diana Bier

    • Björn Bauch 18. August 2024 at 11:00 - Reply

      Moin Frau Bier,
      bei Ihnen kommen folgende Dinge zusammen (gilt für Niedersachsen!):
      Keinem Kind kann der Besuch einer Regelschule (im Kontext von Inklusion) verweigert werden. Für den Besuch einer Förderschule benötigt ein Kind jedoch grundsätzlich den entsprechenden Unterstützungsbedarf. Förderschule „Sprache“ -> Unterstützungsbedarf in Sprache, Förderschule „Geistige Entwicklung“ -> Unterstützungsbedarf im Bereich „Geistige Entwicklung“ und so weiter.
      Die Förderbedarfe ESE (emotional-soziale Entwicklung) und LE (Lernen) sind Bestandteil der sonderpädagogischen Grundversorgung und somit in der Regelgrundschule inkludiert. Vor einigen Jahren sind die beiden genannten Förderschulbereiche aufsteigend ausgelaufen. Diese Schulen sind mittlerweile geschlossen und das Personal ist an die Regelschulen versetzt worden. Wenn Ihr Kind also einen Unterstützungsbedarf LE und / oder ESE besitzt, gibt es schlichtweg keine Förderschule und die Zuständigkeit liegt bei der örtlichen Grundschule.
      Inwieweit sind die von Ihnen genannten Dispositionen Ihres Kindes im Rahmen eines ärztlichen Gutachtens, Attests, ICD-Klassifizierung, etc. beschrieben und belegt? Ich verstehe es so, dass Ihr Kind gerade eingeschult wurde. Das Verfahren zur Einleitung auf Feststellung eines Unterstützungsbedarfes LE wird grundsätzlich erst mit Beginn der dritten Klasse (oder Ende der 2. Klasse) eingeleitet. Wurde das bei Ihnen ggf. schon im Kiga gemacht (aufgrund einer besonderen Eindeutigkeit)?
      Lassen Sie sich von der örtlichen bzw. zuständigen Schule beraten, wie der Schulbesuch bei Ihrem Kind gelingen kann.
      Mit besten Grüßen
      Björn Bauch

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